In der schönen Aussicht hat sich der Winter längst verabschiedet und hält schon seinen wohlverdienten langen Schlaf.
Die Tage sind heller geworden und überall hört man die schönsten Vogelgesänge. Rotkehlchen stimmen morgens ihr erstes Tageskonzert an, gefolgt von Blaumeisen und Gimpel. Und wenn die Sonne gegen sieben Uhr morgens aufgeht, ist es auch für Katzin bald Zeit aufzustehen und sich für den Tag bereit zu machen. Der Pyjama wird gegen Hemd und Hose ausgetauscht. Sobald die Teekanne zu pfeifen beginnt, sitzt Katzin frisch gewaschen und angezogen am Frühstückstisch. Früher war er kein guter Frühstücker. Da hat eine Tasse Tee gereicht, um munter zu werden. Doch diese Gewohnheit hat er sich spätestens in der Oberschule abgewöhnt. Mit einem guten Marmeladenbrot lässt es sich besser denken, so Katzin.
Sobald Katzin die Baumallee der schönen Aussicht betritt, schaut er sich die prachtvollen Kastanien an, die schon in ihrem schönsten Grün gekleidet sind. Ein tiefer Atemzug bestätigt ihm, dass der Frühling in seiner vollen Blüte ist.

Auf dem Weg zu seinem Lädchen begegnet er dem kleinen Mio, der etwas trüb daher blickt.
„Ja, guten Morgen, Mio!“ ruft er ihm zu.
Mio blickt hoch und bringt nur ein leises „Morgen.“ hervor.
„Heute müsste auch dein Buch ankommen, dass ich für dich bestellt habe. Holst du es dir nach der Schule ab?“ fragt ihn Katzin. Mio nickt und verschwindet hinter dem fünften Kastanienbaum, der vor der Bushaltestelle steht. Er lässt sich wie ein nasser Sack auf die Bank plumpsen und wartet auf den Schulbus.
Katzin schließt die Tür zu seinem Laden auf und macht das große Licht an. Heute steht nicht viel auf seinem Plan.
Er muss nur einige Bücher einsortieren und die Büchernacht für die kommende Woche planen. Die Büchernächte sind seit zwei Jahren alle drei Monate eine besondere Veranstaltung in der Schönen Aussicht. Katzins Schwalbenkinder bringen ihre Schlafsäcke mit in den Laden und machen es sich mit heißer Schokolade oder selbstgemachter Limonade auf dem Boden bequem, während Katzin aus den Lieblingsbüchern der Schwalbenkinder liest. Das wird vor der Büchernacht festgelegt, indem jeder für sein Lieblingsbuch seine Stimme abgeben kann. Diese Mal ist es „Momo“ von Michael Ende. Katzin muss sich dafür einige Passagen raussuchen, die er dann vorlesen will. Denn das ganze Buch ist nun wirklich nicht zu schaffen. Und seien wir mal ehrlich, es ist ein wirklich anspruchsvolles Buch, das dieses Mal ausgewählt wurde.
Katzin macht sich gerade seine Notizen als der Postbote Herr Eifrig mit einer großen Büchersendung in den Laden rein stolpert. „Huch, Herr Eifrig, Sie sind aber beladen!“ Katzin steht rasch von seinem Platz auf und rettet ein Paket, indem er es blitzschnell vorm Sturz bewahrt. „Na ja, mein Lieber, Sie haben sich da auch ganz schön viele Leseeulen anerzogen!“ Herr Eifrig lächelt kurz auf und wischt sich mit seinem Ärmel drei Schweißperlen von der Stirn. Katzin will ihm gerade eine Limonade anbieten, da ist er schon aus der Tür. „Bis morgen, mein Lieber!“ ruft er noch bevor er wieder in sein Postauto steigt und davon fährt.
Herr Eifrig hat recht. Katzins Schwalbenkinder sind wahre Büchereulen.
Nicht nur Mios Buch ist heute angekommen, sondern auch die für Emma, Manu, Lille und Bobi. Die kleine Meerjungfrau, Peter Pan, Moby Dick und Alice im Wunderland. Katzin hat die Bücher ausgepackt und mit Namenszettel versehen, damit auch jede Büchereule das richtige Buch bekommt. Katzin ist sich aber sehr sicher, dass die Schwalbenkinder ihre Bücherschätze unter einander tauschen und ausleihen. Mios Buch ist natürlich auch unter den Bestellungen.
Kaum hat Katzin es ausgepackt und mit Mios Namen verseht, ertönt auch schon die Türglocke. Mio stellt seinen schweren Schulranzen auf den Boden und winkt Katzin zu, der im hinteren Raum an seinem Schreibtisch sitzt. „Nanu, ist es denn schon so spät?“ fragt sich Katzin und rückt seine Brille zurecht, die langsam auf seine Nasenspitze gewandert ist. „Ja, hallo Mio! Kaum zu glauben, dass es schon zwölf Uhr ist!“ ruft Katzin. „Eigentlich ist es erst elf, aber Frau Wanderlieb ist krank und wir durften früher gehen.“ sagt Mio. Heute ist ihm wirklich kein Lächeln zu entlocken. Selbst die entfallene Erdkunde-Stunde stimmt ihn nicht fröhlich. Obwohl er dadurch ja mehr Zeit zum Spielen hat oder Lesen oder…
„Na dann hast du mehr Zeit, um dein Buch zu lesen!“ entgegnet ihm Katzin, doch Mio zuckt nur mit den Schultern.
„Willst du mir vielleicht verraten, was dich heute so traurig stimmt?“ fragt ihn Katzin. Doch Mio schaut nur auf den Boden und bleibt stumm. „Na komm, ich habe frische Limonade und da Herr Eifrig keine Zeit hatte, ist mehr für uns übrig!“ Katzin reicht Mio ein Glas und schenkt ihm einen großen Schluck seiner Spezialzitronenlimonade ein.
„Kennst du das Sprichwort: Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach Limonade draus?“ Mio schüttelt den Kopf. „Ein ganz wunderbares Sprichwort, das ich stets in die Tat umsetzte.

Na gut, der Zitronenbaum in meinem Garten ist auch ein wenig daran beteiligt, dass ich einen großen Vorrat an Zitronenlimonade habe.“ Nun konnte er ihm doch ein kleines Lächeln abgewinnen.
„Katzin?“
„Ja, mein Lieber?“
„Sind Sie auch manchmal sauer?“
„Du meinst wie eine Zitrone?“
Mio lacht laut los. „Nein, nicht wie eine Zitrone! Sind sie manchmal wütend?“ fragt Mio.
„Natürlich bin ich das! So wie ich fröhlich bin, kann ich auch mal wütend werden oder auch traurig.“ sagt Katzin.
„Aber wütend sein ist doof.“ erwidert Mio.
„Ach ja, wieso?“ Katzin schaut ein wenig verdutzt.
„Na weil andere einen dann nicht mehr mögen.“ antwortet Mio und holt schon für den nächsten Satz aus: „Ich werde so, so stark wütend, wenn mein kleiner Bruder ungefragt an meine Insektensammlung geht, dass ich ihn dann anschreie. Er weint dann richtig laut, dass meine Mama kommen muss. Ich glaube, sie ist dann auch sauer auf mich. Aber ich bin auch so sauer, dass ich weiter brüllen muss. Und zur Strafe muss ich eine Stunde lang in meinem Zimmer bleiben. Timi wird natürlich nicht bestraft, weil er klein ist.“ Mio nimmt einen kräftigen Schluck von seiner Limonade und schaut ganz empört.
„Oh, das kenne ich gut. Meine Schwester hatte auch die schlechte Angewohnheit meine Sachen zu durchforsten. Das hat mich auch immer sehr wütend gemacht.“ sagt Katzin und nickt Mio zu.
„Ich darf einfach nicht wütend sein!“ schießt es aus Mio heraus.
„Natürlich darfst du wütend sein, Mio.“
„Ja, aber meine Mama mag mich dann nicht mehr!“
„Sie wird dich immer mögen, auch wenn du mal wütend bist und brüllst.“ Das Argument scheint Mio nicht zu überzeugen.

„Nein, sie ist auf ewig sauer.“ sagt Mio traurig. Katzin schenkt ihm nochmal Zitronenlimonade nach.
„Schau mal. Sauer sein wie eine Zitrone oder wütend aufbrausen wie ein Vulkan sind nur zwei kleine Teile, die dich ausmachen. Und die gehören dazu. Aber du bist auch sehr nett und höflich. Du hilfst deiner Mutter bei den Einkäufen und machst schon Gartenarbeiten. Das macht deine Mutter sehr froh. Und wenn sie mal sauer auf dich ist, dann vergisst sie aber nicht, dass es neben dem wütenden auch einen lieben Mio gibt.“
Mio schaut aus dem Fenster. „Hmm. Das stimmt Herr Katzin. Meine Mama ist ja auch nicht nur nett, aber ich habe sie trotzdem lieb.“ Eine kleine Erleichterung macht sich auf seinem Gesicht breit.
„Manchmal da bin ich sauer wie Zitronenlimonade und manchmal so süß wie Kirschsaft.“ sagt Mio.
„Das trifft den Nagel auf den Kopf!“ entgegnet ihm Katzin und findet diesen Vergleich wunderbar.
Mio wirft sich seinen Rucksack über die Schulter und ist fast schon aus der Tür als Katzin ihm nachruft: „Du hast was vergessen!“ Er reicht ihm sein Buch. „Wo die wilden Kerle wohnen“.
„Das wollte ich mit Timi anschauen. Ich kenne es aus dem Kindergarten und da hat es mir schon sehr gefallen. Ich glaube, er wird es auch mögen.“ sagt er noch bevor er auf die Allee der Schönen Aussicht läuft und bald nicht mehr zu sehen ist.